„Ich definiere mich als Baum“ – Das Leben mit Autismus

Freitag, der 10. Dezember, 13.49 Uhr. Julian Leske, ein großer blonder Mann steht bereit, seinen Vortrag zu halten, während die „Psychologiekurse“ sich schon an den Weihnachtskeksen bedienen. Er hat Autismus, Dyskalkulie, Asperger und eine Störung der Grob- und Feinmotorik, ganz schön viele Diagnosen für einen gerademal 29-Jährigen. Dennoch ist er froh, davon zu wissen, sagt er, denn seine früheren Fehldiagnosen erleichterten ihm nicht gerade seine Kindheit. Er sagt sogar, dass er lieber mit Autismus als ohne es leben wolle. Bis er 18 Jahre alt war wusste er jedoch nicht, was er genau für eine Diagnose hatte, stattdessen bedienten sich seine Ärzte mehr oder weniger aus einem „Gemischtwarenladen der Behinderungen“ und entschieden je nach Tagesform, was nun passen würde, erklärt er. Seine Eltern ahnten es schon seit seinem 12. Lebensjahr, doch entschieden sie sich, es ihm nicht zu erzählen, da es für ihn ein „Freifahrtsschein“ gewesen wäre sich auf die faule Haut zu legen, wie er bezeugt. Um Normalität und Rituale einzuführen, haben sie schon immer eine hohe Akzeptanz und Gelassenheit gezeigt, extra viel Zeit eingeplant und bereitwillig soziale Situationen erklärt. Wurde es ihm dann doch einmal zu stressig, hilft es, sich auf den Boden zu legen. Als Zweitbester seines Jahrgangs startete er mit seinem Fachabitur ein Studium in Wirtschaft & Verwaltung, wird aber als Mathefeind vom mathematischen Inhalt übermannt und bricht daraufhin ab. Heute ist er als Verwaltungsbeamter unter anderem für Schwerbehinderte zuständig, die wie er selber einen Schwerbehindertenausweis haben.

Der „Eisenbahnliebhaber“ wohnt nicht nur 400m vom Bahnhof entfernt, sondern findet seinen Ruhepol mit Hardcore-Techno in den Ohren bei 150 bis 250 bpm auf dem Weg zum nächsten Ziel. Auch das mit 16 Jahren erlernte Schwimmen gibt ihm die Möglichkeit, sich entspannen zu können.

„Hast du einen Autisten kennengelernt, hast du eben auch nur einen Autisten kennengelernt“. Er bezeichnet sich selber als Baum, „er stehe noch, wachse aber sehr langsam“, denn Autismus lässt sich nicht in eine Schublade stecken und er lässt sich vom Motto „semper apertus“, lateinisch für „stets offen“ durchs Leben begleiten. Es braucht bei ihm einfach mehr Zeit, Güte und Nachsicht zur Selbstverwirklichung und um die Emotionen, die der Gesprächspartner aufleben lässt, zu verstehen, weshalb manche seiner Reaktionen auch als „sozial unpassend“ gewertet werden. Ein geschichtliches Interesse am Nationalsozialismus verleitete ihn zum Besuch eines KZs. Die Emotionen, welche dieser Ort bei einer Frau auslösen konnte, veranlassten ihn, näher an die Dame heranzutreten, um ihre Tränen zu sehen und ein Verständnis dafür zu entwickeln. Äußere Reize zwischen Sinn und Unsinn zu selektieren, verlangt ihm viel Energie ab.

Aber auch weitere Einschränkungen nimmt er mit Humor, obwohl ihn seine Ungeduld dabei herausfordert. Seine Entwicklungsstörungen erzählt er in kurzen Anekdoten, wie z.B. das Erlernen des Uhrenlesens erst mit 18 Jahren und das ausschließliche Apfelsaft trinken bis zu seinem 8.Lebensjahr, obwohl er heute auch gerne mal auf Mangosaft umsteigt, wie er bereitwillig vor seinen Zuhörern preisgibt. Im Umgang mit anderen Menschen fällt ihm vor allem das Vortragen leicht und das Reden mit Autisten oder Hochbegabten, wo er das Gefühl habe, sich nicht an soziale Normen halten zu müssen, während ihn Gespräche mit Menschen ohne Autismus anstrengen. Umso schwieriger wäre es, wenn Alkohol ins Spiel kommt. Damit eine Kommunikation auch dann gelingt, bereitet er sich zuvor mithilfe von SocialMedia eine breitgefächerte Gesprächspallette vor.

So wie er sich um soziale Kontakte bemüht (auch wenn seine Konzentrationsleistung nach einer Weile nachlässt), erwünscht er sich von seinem Gesprächspartner Zuverlässigkeit und weniger Ironie (obwohl er auch gerne mal den Nutzen daraus zieht), denn gesprochenen Worte nimmt er wörtlich. Er orientiere sich an „normalen“ Menschen, aber ohne sich selber aufzugeben.

Wir möchten uns an dieser Stelle noch einmal herzlichst bei Herrn Leske bedanken, der uns seinen Alltag mit einer Autismus-Spektrum-Störung nähergebracht hat und am Ende ohne zu zögern auf unsere Fragen eingegangen ist.

von Lara Maria Lau & Emily Anna Maria Lange