Was war, wird wiederentdeckt: Ein Fundstück aus dem Schularchiv.

„Die SMV [=SchülerMitVerantwortung, HS] bittet alle Schüler [,] morgen in angemessener Kleidung zu erscheinen.“

Eine Gedenkfeier für den verstorbenen Altbundeskanzler Dr. Konrad Adenauer am 25. April 1967

Im Schularchiv finden sich für das Jahr 1967 Erinnerungstücke an eine Gedenkfeier, die der Schule von Wolf H. Knipfer, Abiturient am GOA (vermutlich 1969), im Jahr 2021 zur Verfügung gestellt wurden. Äußerer Anlass ist der Tod Konrad Adenauers, der die Schulabteilung der Hamburger Schulbehörde (Aktenzeichen S 19 – F V m2) zu einem Rundschreiben mit dem Hinweis „SOFORT“ veranlasst hat. In diesem zitiert der Landesschulrat eine Würdigung Adenauers durch den Hamburger Bürgermeister Dr. Weichmann und ordnet an – und das ist hier entscheidend –, dass am Dienstag, dem 25. April 1967, an allen Schulen in geeigneter Weise Konrad Adenauers und seines Wirkens gedacht werden soll (in: Schularchiv GOA. Akte 1967).

Was hieß das am GOA? Im Archiv finden sich dazu zwei Dokumente ( siehe D1 und D2):

(Quelle D1)
(Quelle D2)

D1 ist ein einseitiges Schreiben „An die Klassensprecher der Klasse …….“ ohne Datum. Dieses Schreiben ist vom „Vorstand der SMV“ gezeichnet, also der vermutlich höchsten Instanz der Schülermitbestimmung am Gymnasium Oberalster im Jahr 1967. In ihm findet sich das Programm einer Gedenkfeier für den 25. April und acht klar gefasste „Organisatorische Anweisungen an die Klassensprecher“.

Die Gedenkfeier mit Gedenkrede wird vom Chor, dem Orchester und dem „gemeinsamen Singen des Deutschlandliedes“ gerahmt, dabei wird ausdrücklich darauf verwiesen, dass die „3. Strophe“ zu singen sei und zwar „stehend“. Nach einer Gedenkminute bittet die SMV darum, die Pausenhalle schweigend zu verlassen. So weit sehr würdig. Nur würde man erwarten, dass der Schulleiter oder eine verdiente Lehrkraft die Gedenkrede hielte. Nicht so am GOA: Hier steht der Schüler Wolf-Harald Knipfer im Programm. Das ist in der Tat für die 1960er-Jahre ungewöhnlich. In einer noch eher autoritär und traditionell geprägten Gymnasiallandschaft ließ der Schulleiter (in der Regel noch männlich) es sich in der Regel nicht nehmen, die Rede selbst zu halten.

Hinzu kommt ein besonderes Risiko: Unser Redner, Wolf-Harald Knipfer, ist zeitlich als echter 1968er einzuordnen. Er bekennt sich in seinem Schreiben vom 20. März 2021 auch offen dazu, dass es spannend gewesen sei, 1968/69 Oberstufenschüler gewesen zu sein:

„Ich war nicht nur 2-3x die Woche ab 1965 im „Star Club“, habe 1968 mit vielen anderen das Schauspielhaus besetzt [und] als Präsident der SMV Basisdemokratie geübt.“

Schreiben vom 20.3.2021. In: Schularchiv GOA. Akte 1967.

Damit war die Schulleitung sehr mutig. Nicht nur der äußere Rahmen und die Organisation der Gedenkveranstaltung wurde der Schülervertretung übertragen, sondern auch deren Inhalt in Form der Gedenkrede. Was würde passieren, wenn in der Rede eine Abrechnung mit der Ära Adenauer und dessen Westorientierung erfolgen würde? Der Vietnamkrieg und Kritik an den USA hochkäme? Die Verantwortung der Elterngeneration für die Verbrechen während der NS-Diktatur eingefordert würde?

Nun, lesen Sie selbst (Dokument D2). Das alles trat nicht ein. Irgendwie auch typisch GOA: Viel Eigenverantwortung für die Schülerinnen und Schüler, auch Mitbestimmungs- und Gestaltungsmöglichkeiten, dafür aber auch ein Einhalten von Rahmenbedingungen, indem eben die Gedenkfeier nicht politisch „umgedreht“ wurde.

Aus heutiger Perspektive ist die Würdigung Wolf H. Knipfers fast schon zeitlos gelungen. Die Fakten sind korrekt, die Einschätzungen bis heute durch die Forschung nicht grundlegend widerlegt und zwei Inhalte lassen aufmerken: Wolf H. Knipfer spricht sehr deutlich von der faktischen Anerkennung der neuen Ostgrenze Deutschlands, die schon 1945 in einem Interview erfolgt sei und der Redner ist pessimistisch, dass „das Verhältnis der Machtblöcke in absehbarer Zeit eine Fortführung seiner [Adenauers, HS] Politik in Bezug auf die Wiedervereinigung nicht zulässt“. (Wenn Sie mehr über Adenauer erfahren möchten, ist die zweibändige Biographie von Hans-Peter Schwarz weiterhin erste Wahl, kürzer und spannend zu lesen ist: Werner Biermann: Konrad Adenauer. Ein Jahrhundertleben. Berlin (Rowohlt) 2017.)

Hier ist sie, die neue Ostpolitik, die ab 1969 unter der Führung des Bundeskanzlers Willy Brandt in einer SPD-FDP-Koalition Gestalt annahm – und hier ist vielleicht auch die grundlegende Skepsis der 1968-Generation zu erkennen, die so viele Mitgliedern dieser Generation 1989/90 an einer Wiedervereinigung zweifeln ließ. Aber das ist nur eine Vermutung, der Inhalt der Rede von 1967 weist eher in eine andere Richtung.

Doch lesen Sie selbst und bilden Sie sich ein Urteil. Und staunen Sie, zu welchen Leistungen unsere Schülerinnen und Schüler am GOA schon immer fähig waren.

Dr. Helge Schröder